Fragen zur Art und Realisierung von Barrierefreiheit
12.02.12, 00:49:41
feder
geändert von: feder - 12.02.12, 00:50:23
Für ein aktuelles Projekt würde mich interessieren, was euch zu diesen Punkten einfällt.
- wie ihr das Verhältnis oder auch die Wechselwirkung von Gleichberechtigung/Nichtdiskriminierung und Barrierefreiheit seht
- Was Barrierefreiheit konkret bedeutet – handelt es sich dabei um ein Recht, ein Prinzip, eine Vorbedingung für eine gleichberechtigte Teilnahme Behinderter oder um alles zusammen
- welche Aspekte die Realisierung von Barrierefreiheit beinhaltet sowie das Verhältnis von Barrierefreiheit und Wohnen/Unterbringung/...
- die Rolle und die Kompetenzen verschiedener nationaler Stakeholder, der öffentlichen Organe, Expertenvereinigungen (z.B. Architektenverbände etc.), Forschung und Zivilgesellschaft (insbes. Behindertenvereinigungen) in Bezug auf die Umsetzung von Barrierefreiheit sowie bei der Überwachung derselben.
- Beispiele von Good Practice in Bezug auf die Umsetzung von Barrierefreiheit, Universellem Design, der Finanzierung regionaler, nationaler und lokaler Aktionspläne sowie der Entfernung von Barrieren in der physischen Umgebung, dem öffentlichen Verkehr, im Bereich der Information, Kommunikation sowie dem Zugang zu Dienstleistungen
13.02.12, 18:02:54
PvdL
Das Problem mit Gesetzgebungsinitiativen zur Barrierefreiheit ist meines Erachtens, daß es ohne die Bereitschaft derer, die für die Barrieren verantwortlich sind, nicht geht; wer Barrieren nicht abbauen will, der wird auch immer Wege finden, entsprechende Gesetze zu unterlaufen. Dazu ein Beispiel: Es gibt ein Gesetz, welches bestimmten Personen durch verbesserten Kündigungsschutz helfen soll; es wird unterlaufen indem diese Personen erst gar nicht eingestellt werden.
13.02.12, 18:14:56
55555
Es gibt tatsächlich eine Menge vielleicht mal gut gemeinter Beispiele, die in der Realität nicht gut funktionieren, weil sie zu kurz greifen. Dennoch würde ich nicht pauschal sagen, daß verordnete Barrierefreiheit gar nicht sinnvoll funktioniert. Ein Grundproblem ist allerdings, daß man sich bei Ansätzen, die hinter das Ziel des Universellen Designs zurückfallen schon bei der Inanspruchnahme oft die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Bevölkerungsgruppoe nachweisen muß und sich so auch für weitergehende Diskriminierungen angreifbar macht, die den Nutzen des eigentlichen Nachteilsausgleiches überwiegen.
Aber Universelles Design an sich finde ich schon überzeugend, da nach diesem Ansatz niemand mehr eine Anspruchsberechtigung nachweisen müßte, da alle Barrieren so beseitigt werden, daß das gar nicht notwendig wird. Di eeinstellung in dem Köpfen kann man aber sicherlich nicht durch Verordnungen bestimmen, höchstens durch gut gemachte Bildungsmaßnahmen (die bisher in der Lebenswirklichkeit auch erschüternd oft danebengehen was den Behindertenbereich betrifft).
13.02.12, 20:52:50
Vendela
Gleichberechtigung/Nichtdiskriminierung bezieht sich eher auf das Dürfen / formell ausgeschlossen werden, Barrierefreiheit auf das Können.
Barrierefreiheit sollte zwar einforderbar sein, aber eigentlich sollte sie mehr als ein Recht sein. Es sollte von vornherein für Barrierefreiheit gesorgt werden (nach dem Prinzip des unversellen Designs). Nur zusätzlich (bei unvorhersehbaren Barrieren) sollte sie unkompliziert (ohne Streitereien um Nachweise, Bedürfnisse...) einforderbar sein. Davon profitieren auch die, für die "Barrieren" keine Schranken, aber Hürden sind. Und letztlich auch die Gesellschaft.
Mir fällt immer wieder auf, dass der Aufwand, Barrieren zu beseitigen, viel geringer wäre als die Ringerei um die Beseitigung von Barrieren, und das obwohl einer Institution oder der Gesellschaft ein zusätzlicher Nutzen durch die Abschaffung von Barrieren entstehen würde. Trotzdem wird lang darum gekämpft, ob Barrieren abgebaut werden. Da geht es dann nicht mehr um die Barrieren als solche, sondern um andere Prinzipien.
Verordnete Barrierefreiheit funktioniert zwar nicht ideal, aber wenn sie grundsätzlich nicht verordnet wird, gibt es sie oft überhaupt nicht. Noch besser wäre es, wenn es selbstverständlich und eine Verordnung überflüssig wäre.
Was sind nationale Stakeholder?
13.02.12, 22:10:10
feder
Zitat:
Was sind nationale Stakeholder?
Damit meinte ich Personen/Gruppen/Institutionen, die auf nationaler Ebene agieren und ein Interesse an der (Nicht-)Umsetzung von Barrierefreiheit haben.
13.02.12, 22:10:52
drvaust
Barrierefreiheit sollte immer auf allen Gebieten angestrebt werden, und das sollte vorgeschrieben sein.
Aber das ist nicht immer möglich und teilweise nur mit sehr hohem Aufwand.
Außerdem bedeutet Barrierefreiheit für eine Gruppe manchmal Barrieren für eine andere Gruppe.
Z.B. Rollstuhlfahrer und Gehbehinderte hätten gerne möglichst keine Bordsteinkanten, zumindest an allen Ecken Bordsteinabsenkungen. Blinde brauchen aber deutliche Bordsteinkanten, um diese ertasten zu können. Es wurde dafür ein Kompromiß ermittelt, eine Mindesthöhe für Bordsteinkanten, die noch gut ertastet werden kann.
Für Blinde gibt es an manchen Ampeln akustische Signale. Ich mußte mal an einer ruhigen Haltestelle mit mehreren Fußgängerampeln warten, das Knacken und Tackern hat mich bald verrückt gemacht, ich mußte zur nächsten Haltestelle laufen.
Für Barrierefreiheit sollte es vorgeschrieben sein, daß bei jeder neuen Aktion, Gestaltung, Bauwerk usw. über Barrierefreiheit nachgedacht wird und, so weit wie ohne zu großen Aufwand möglich, Barrierefreiheit hergestellt wird. Das müßte kontrolliert und unterstützt werden.
Dazu müßte auch ein Katalog von Möglichkeiten zur Barrierefreiheit erstellt werden, weil kaum ein Mensch alle möglichen Barrieren kennt. Außerdem müssen die Vorschriften angepaßt werden, manche Vorschriften sind aus dem 19. Jhd., als Barrierefreiheit noch kaum ein Thema war.
29.02.12, 15:35:36
Vendela
Das Thema ist zwar schon älter, aber mir ist noch was dazu eingefallen:
Gestern hab ich eine Gebrauchsanweisung für einen Wasserkocher gelesen. Da steht drin, dass Kinder und Personen mit einer Behinderung ihn nicht benützen dürfen und er von ihnen ferngehalten werden muss. Vermutlich soll das das Haftungsrisiko minimieren.
Ich hab für mich kein Problem damit, aber ich hab mir zwei hypothetische, leicht philosophische Fragen zum Thema Barrierefreiheit gestellt:
Wie ist das, wenn sich eine "Person mit einer Behinderung" diesen Wasserkocher kauft und dann feststellt, dass sie ihn lt. Anleitung gar nicht benutzen darf? Es ist kein Hinweis auf der Schachtel und bei einem Wasserkocher hätte ich diese Einschränkung nicht vermutet. Man kauft sich normalerweise einen Wasserkocher auch nicht, um ihn ins Bücherregal zu stellen, sondern um ihn zu benützen. Wäre das ein Grund, ihn zurückzugeben? Oder haften die Barrieren an der Person und muss sie selbst sehen, wie sie damit zurecht kommt?
Die ande Frage: Ein generelles Problem ist, dass erst mal bekannt sein muss, welche Barrieren bestehen, um sie abbauen zu können. Aber bei einem Rundumschlag, der alle "Personen mit einer Behinderung" von der Benutzung ausschließt, ist es offensichtlich, dass eine Barriere besteht. Schließt die Idee der Barrierefreiheit für solche Fälle ein, dass auf offensichtlich vorhandene, nicht zu beseitigende Barrieren explizit (z.B. auf der Verpackung oder auf einer Webseite) hingewiesen werden muss, um z.B. einen Fehlkauf oder einen unnötigen Weg zu vermeiden? Müssen unvermeidbare Barrieren begründet werden, um Diskriminierung zu vermeiden?
29.02.12, 15:42:18
55555
Gestern hab ich eine Gebrauchsanweisung für einen Wasserkocher gelesen. Da steht drin, dass Kinder und Personen mit einer Behinderung ihn nicht benützen dürfen und er von ihnen ferngehalten werden muss.
Cool, machst du mal einen Scan davon und mailst ihn mir zur Veröffentlichung?
29.02.12, 15:50:07
wolfskind
oh man wie wollen die verkäufer denn feststellen ob jemand grade behindert wird?
die armen NA die dann keinen mehr kaufen dürfen. grins.
01.03.12, 01:35:16
Fundevogel
Auf einer Veranstaltung war zu hören, dass mit dem zu erwartenden Anstieg von Behinderten durch die Überalterung der Gesellschaft die Einzelbeseitigung von Barrieren und die Schadensregulierung zu teuer werde.
Den Versicherern werde bereits empfohlen darüber nachzudenken, Wohnungen und Arbeitsstellen, die keine allgemeingültige Barrierefreiheit vorzuweisen hätten (wie auch immer die dann auszusehen habe), nicht mehr zu versichern bzw. sehr hohe Versicherungssummen aufzuerlegen.
Es herrscht die Ansicht, dass dies zu einem enormen Anstieg barrierefreien Bauens und Einrichtens führen könnte.
01.03.12, 22:28:49
Fundevogel
Von "Krankheit" über "Therapie" zu den "Anforderungen an die Architektur":
http://home.arcor.de/kerstinkulus/autismus/innenarchitektur.htm
Dort wird auch für Autisten gearbeitet:
http://www.silencesolutions.de/DE/index.php
04.03.12, 01:48:30
Vendela
Ist nicht mein Wasserkocher, aber wenn ich wieder an die Anleitung komme, scann ich sie dir.