Zitat:
Eine Welt ohne Grenzen ist eine gefährliche Utopie. Über den Weg, den Angela Merkel eingeschlagen hat, bin ich entsetzt. Das geht vielen Juden hier so. Einige wollen das Land verlassen.
Gut ist das Gegenteil von gut gemeint. Sagte Tucholsky. Und gut gemeint war und ist die kosmopolitische Vision einer grenzenlosen Welt, die Vision des Spätsommermärchens, der Willkommenskultur: „Kein Mensch ist illegal“, „No Borders, No Nations“, „Bleiberecht für alle“, „Überwindung des Nationalstaats“, „Wir schaffen das“, so hieß es, heißt es.
Denn warum soll derjenige, der das Unglück hatte, in ein von Krieg oder von Armut zerrissenes Land hineingeboren zu werden, nicht das Recht haben, dorthin zu ziehen, wo es Wohlstand und Stabilität gibt? Hätten nicht die Bewohner des globalen Nordens genauso gehandelt, wären sie nicht zufällig in Stuttgart zur Welt gekommen, sondern in Sierra Leone? Sind Grenzen also nicht nur ungerecht, sondern auch unlogisch? Weg mit ihnen, den Grenzen! Daher: Brüder, zur Sonne, zum Weltstaat! Das ist die große Utopie.
Ich bin ein postsowjetischer, ein – im weiteren Sinn - russischer Jude. Und wir russischen Juden haben unsere Erfahrungen in Utopie bereits gemacht. Unsere Utopie war die Utopie des Kommunismus, der Traum von der radikalen Gleichheit, vom neuen Menschen und von der leuchtenden Zukunft. Diesem Traum hatten wir uns 1917 ganz, mit Haut und Haar, mit Herz und Seele verschrieben.
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Joschka Fischer meint in einem Text in der SZ, angesichts von Viktor Orban und Kaczynski könne man „fast“ von Wohlstandsfaschismus sprechen. Wohlstandsfaschismus, klingt das nicht super? In Polen beträgt die Durchschnittsrente übrigens 360 Euro im Monat. Fischer dagegen hat im Jahr 2010 ca. 250.000 Euro im Monat verdient.
In den frühen Dreißigern des letzten Jahrhunderts haben kommunistische Parteien gegen Sozialdemokraten als Sozialfaschisten agitiert; heute halten unsere Gesinnungseliten Menschen, die der Ansicht sind, Staaten dürften darüber bestimmen, wen sie ins Land lassen sollen, für Rassisten, Faschisten, Verbrecher. Man sagt, Geschichte wiederhole sich nicht, aber ihr seht, Freunde, es ist alles schon mal dagewesen.
Und es war auch schon einmal so, dass eine gut gemeinte Sache fatale Folgen hatte: Die Konsequenzen der kommunistischen Utopie in Russland sind bekannt. Welche Konsequenzen wird nun die kosmopolitische Utopie in Deutschland haben, wenn man sie realisiert, also wenn es einfach so weiter geht wie bisher?
Es ist wahrscheinlich, aber nicht völlig sicher, dass einer Gesellschaft, die nicht weiß, wer sie ist und was sie sein will, die ökonomische und kulturelle Integration von Millionen und Millionen von Neuankömmlingen misslingen wird, mit der Folge unbeherrschbar wachsender interethnischer Spannungen.
Es ist wahrscheinlich, aber nicht völlig sicher, dass Kriminelle und Terroristen aus dem gesamten Nahen Osten sich unter den Flüchtlingsstrom mischen und nach Europa kommen werden, so dass nach einiger Zeit auch der letzte Anschein staatlichen Gewaltmonopols verschwindet. Es ist wahrscheinlich, aber nicht völlig sicher, dass ein bedeutender Teil der Einheimischen das Vertrauen aufgibt in einen Staat, der die Kontrolle verloren hat, dass dieser Teil sich radikalisiert und die Systemfrage stellt, in der Wahlkabine oder auf der Straße. Das alles ist wahrscheinlich, aber eben nicht völlig sicher, hängt es doch von verschiedenen Annahmen ab, über die man endlos diskutieren kann, hängt es doch davon ab, welche Vorstellungen man hat von Ökonomie oder von der Existenz kulturspezifischen Verhaltens, vom Wesen des Islam, von Rassismus, von Kriminalität oder von der Attraktivität westlich-liberaler Werte.
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Wohin würde es denn führen, wenn ein Industriestaat in der Mitte Europas zusammenbricht und zu einem zweiten Libanon wird oder zu einem Somalia des Nordens? Welche Folgen hätte dies für den Rest Europas, ja der Welt? Wem wäre damit gedient?
Irgendwann muss man zur Vernunft zurückkehren: Genauso wie die kommunistische Utopie keine Lösung für die Ungerechtigkeiten der Industrialisierung war, ist die kosmopolitische Utopie keine Lösung für die Ungerechtigkeiten der Globalisierung. Man wird andere Rezepte suchen müssen. Beispielsweise: Die völlige Abschaffung von Agrarsubventionen, die massive Förderung von Investitionen in Entwicklungsländern, die Vollfinanzierung von Flüchtlingscamps in den Anrainerstaaten. Solche Dinge werden viel Geld kosten. Aber es ist eine edle Sache, dieses Geld in die Hand zu nehmen und zu helfen.
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Ich habe mich lange gefragt, ob es sich noch lohnt, diesen Text zu schreiben. Warum Panik säen, wenn ohnehin alles verloren ist, nachdem die Bundesregierung mit ihrer Rhetorik der Selbstgerechtigkeit ganz Europa gegen sich aufgebracht hat? Aber mir scheint, es lässt sich vielleicht doch noch etwas erreichen, aus einer katastrophalen Lage eine erträgliche Situation machen. Mit einer europäischen Lösung. Dabei denke ich nicht an einen permanenten europäischen Verteilungsmechanismus für Migranten – das ist fast so, wie wenn man auf einem beschädigten Schiff, statt das Leck zu schließen, wartet, bis sich das Wasser im gesamten Rumpf ausgebreitet hat.
Stattdessen bleibt nur noch die australische Lösung, und für diese Lösung bleibt nicht mehr viel Zeit. Europa wird mit afrikanischen Staaten verhandeln müssen, in denen es nach australischem Muster Flüchtlingscamps für alle Migranten ohne Visum geben wird, die die EU erreichen. Irgendjemand wird dann die irregulären Migranten aus den noch ankommenden Schlepperbooten aus Libyen oder der Türkei retten und sie danach in die Flüchtlingslager in Drittstaaten, nach Marokko oder Ruanda zum Beispiel, bringen müssen.
Ob Europa dies gelingen wird, hängt fast ausschließlich davon ab, ob Deutschland - ein Land das außenpolitisch sehr viel Porzellan zerstört hat, wenngleich es ironischerweise am meisten auf diese Lösung angewiesen ist - alle seine Kraft und sein Geld daran setzen wird, dieses Modell zu verwirklichen. Und zwar so schnell wie möglich, solange die Folgen eines temporär völlig ungeordneten Zustandes irgendwie noch erträglich sind, mit Zähneknirschen noch in Kauf genommen werden können.
Die australische Lösung ist grausam? Grausamer wäre die Alternative der dauerhaft offenen Grenzen. Übrigens ist Australien mit seiner restriktiven Politik gegenüber illegaler Migration eines der Länder mit der größten Toleranz gegenüber legaler Einwanderung und eine der Gesellschaften mit der größten Akzeptanz für ethnokulturelle Vielfalt.
Ja, ich glaube, dass Deutschland es schaffen kann, obwohl ich es nicht mehr für wahrscheinlich halte. Ich bin deutscher Staatsangehöriger, auch wenn ich kein Deutscher bin. Ich bin Angehöriger einer ethnischen Minderheit. Ich bin Jude. Trotzdem mag ich dieses Land, es ist heute ein gutes Land, so gut wie jedes andere Land, ein Land, zu dem ich, ähnlich wie zu Israel oder zum postsowjetischen Raum eine besondere Beziehung habe. Daher wünsche ich diesem Land und seinen Menschen, dass sie glücklich werden und auch andere glücklich machen.
Über den Weg, den Merkel eingeschlagen hat, bin ich entsetzt, genauso wie – nach meinem Empfinden – die große Mehrheit aller Juden hier, und wie viele, mit denen ich gesprochen habe, denke ich ans Auswandern. Ich werde es mal in Israel versuchen, was ich, glaubt es mir, schon lange vor der Flüchtlingskrise und aus völlig anderen Gründen vorhatte. Doch irgendwie wünsche ich beinahe, dass ich dort krachend scheitern werde und dann wieder zurückkehre nach einigen Jahren in ein starkes, lebendiges, demokratisches, sicheres und liberales Deutschland.