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ZEIT: Ist es realistisch, dass in absehbarer Zeit Menschen nach Syrien zurückkehren können?
[Peter Maurer, Präsident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK)]: Es gibt Orte in Syrien, wie die Altstadt von Homs, da haben Leute die Chance, ihr Leben wieder neu zu beginnen. Das IKRK unterstützt dort in einem Projekt Rückkehrer dabei, ihre Wohnungen wieder instand zu setzen. An anderen Orten haben Sie riesige Flächen urbaner Zerstörung. Keiner, der dort gewohnt hat, hat in den nächsten fünf Jahren eine vernünftige Perspektive, dort wieder zu leben. Die Entscheidung über Flucht oder Rückkehr ist sehr differenziert. Ich stelle fest, dass Syrer anders entscheiden als andere Leute auf der Welt.
ZEIT: Nämlich?
Maurer: Syrer haben eine größere Präferenz, zu bleiben, auch wenn die Bedingungen sehr schwierig sind. Sie haben wahrscheinlich eine größere Bereitschaft, zurückzukehren. Mich beeindrucken in diesem Land das starke Nationalbewusstsein und der Wille, als Syrer zusammen – und zu seinem Land zu stehen. Viele von denen, die im Libanon in Flüchtlingslagern sind, gehen ab und zu heimlich in ihre Häuser zurück, obwohl sie wissen, dass das verboten ist. Sie leben in Flüchtlingslagern und versuchen, dort etwas aufzubauen, aber sie leben auch halb in Damaskus. Zwei Drittel der Syrer sind Binnenvertriebene. Drei Viertel der Flüchtlinge sind in den drei Nachbarländern geblieben und nicht weiter fort geflohen.
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ZEIT: Ein Grund, der angeführt wird, ist, dass die Lebensmittelrationen in den Flüchtlingslagern der Nachbarländer gekürzt wurden.
Maurer: Das würde ich auch sagen, wenn ich Nahrungsmittelverteiler wäre. Und wenn ich ein Gegner von Frau Merkel wäre, würde ich sagen, die Kanzlerin ist schuld. Wir neigen dazu, sehr komplexe Gründe für unsere jeweiligen Zwecke zu instrumentalisieren.
ZEIT: Das heißt, die Tagesration-Erklärung ist für Sie auch nicht plausibel?
Maurer: Überhaupt nicht. Ich finde alle diese Erklärungsversuche abwegig.
ZEIT: Was wäre dann die Erklärung?
Maurer: Die Leute entscheiden sehr individuell. Der Preis der Schlepper ist ein wichtiger Faktor und die Chance, durchzukommen. Die Leute haben nicht einfach Europa im Kopf. In der Nähe von Masar-i-Scharif habe ich mit Dorfältesten gesprochen und gefragt: Wie entscheidet ihr in eurem Dorf, wer nach Europa geht und wer bleibt? Da haben sie gelacht. Ich habe gefragt: Warum lacht ihr? Sie sagten: Europa ist nur für die reichen Leute. Wir sind ein armes Dorf. Wir reden über den Iran oder Pakistan. – Wenn wir verstehen wollen, warum Leute flüchten, müssen wir die individuellen Dynamiken besser verstehen.