Zitat:
Amila ist zwanzig Jahre alt und Muslimin. Ihre Eltern stammen aus Bosnien, können kaum Deutsch. Der Vater arbeitet auf dem Bau. Vor einem Jahr hat Amila das Abitur gemacht, jetzt studiert sie Romanistik und jobbt nebenher in einem Supermarkt. Sie geht ins Fitnessstudio, hängt sonntags mit Freundinnen ab, schaut sich Schminkvideos auf Youtube an und will später einmal Französischlehrerin werden, kurz: Amila ist ein gutes Beispiel dafür, was Politiker meinen, wenn sie von „gelungener Integration“ sprechen. Es gibt viele solcher Beispiele, viele junge Muslime, die wie Amila in der Gesellschaft, in der sie leben, auch angekommen sind. Aber wie sieht der Weg aus, den sie zurücklegen mussten? Wie einfach oder beschwerlich war dieser Weg für sie, für Amila?
Als Amila vier war, nahm der Vater sie zum ersten Mal mit in die kleine Moschee. Sie erinnert sich, dass sie an diesem Tag Bauchschmerzen hatte. Seit sie denken konnte, war die Moschee etwas, über das sich der Vater und die Mutter stritten. Die Mutter war immer dagegen, dass der Vater in die Moschee ging. Oft stellte sie sich ihm in den Weg, wenn er die Wohnung verlassen wollte. Sie schrie, dass die Menschen in der Moschee böse seien. Dass sie auch ihn böse machen würden. Der Vater stieß die Mutter jedes Mal weg. Er schrie sie an, sie sei keine gute Frau. Eine gute Frau würde dem Mann gehorchen und schweigen.
Manchmal holte der Vater aus, er hob die Hand, und Amila hatte Angst, dass er die Mutter schlagen würde. Aber der Vater schlug nie zu. Amila sagt oft: „Das war unser Glück, dass er uns nicht schlug.“ An dem Tag, an dem der Vater Amila zum ersten Mal mitnahm, brüllte die Mutter wie ein Tier und klammerte sich am Vater fest. Amila spürte die Angst der Mutter und hatte plötzlich selbst Angst. Sie stellte sich die Moschee als etwas ganz Schlimmes vor, wie eine dunkle Höhle. Trotzdem ging sie mit dem Vater mit, an dem Tag und an allen anderen Tagen. Sie liebte ja ihren Vater. Aber sie liebte auch ihre Mutter. Und während sie sich mit dem Vater auf den Weg machte, kamen die Bauchschmerzen.
[...]
Mit gesenktem Kopf saß sie im Islamunterricht, während die Lehrerin mit ihr und den anderen Mädchen schimpfte. Die Lehrerin schimpfte immer: „Allah ist nicht mit euch zufrieden!“ – „Warum geht ihr zur Schule? Allah will, dass ihr heiratet und zu Hause bleibt!“ – „Ihr sündigt!“ – „Ihr übt Verrat am reinen Glauben!“ – „Ihr müsst euch bessern, sonst gehört ihr nicht hierher!“ Für Amila waren diese Sätze wie Stiche, die weh taten und ihr manchmal die Tränen in die Augen trieben. Aber in Wahrheit verstand sie die Sätze damals gar nicht. In Wahrheit weinte sie, weil sie das verzweifelte Brüllen der Mutter nicht vergessen konnte.
[...]
So funktionierte die Welt, in die Amila hineingeboren wurde, in der sie immer gelebt hatte. Sie kannte nichts anderes. Sie durfte in keinen Sportverein, sie durfte keine Klavierstunden nehmen, nicht Schlittschuh oder Fahrrad fahren. Sie musste auf eine islamische Privatschule gehen und nach der Schule immer sofort nach Hause kommen. Sie durfte keine Romane oder Gedichte lesen. Bei ihr zu Hause gab es nur die Bücher, die der Vater aus der Moschee mitbrachte und aus denen Amila immer noch auswendig zitieren kann: „Der reine und aufrichtige Glaube vollendet sich erst im Märtyrertod.“ Oder: „Die Ungläubigen werden schmerzhafte Strafen erfahren.“ Viele Jahre war das Amilas Leben. Von außen mag dieses Leben furchteinflößend wirken. Von innen, aus Amilas Sicht, bedeutete es Geborgenheit und Sicherheit. Von innen wirkte es vertraut, war gefüllt mit Gewohnheiten und Alltag. Wie die meisten Leben der meisten Menschen.
Das muss man zuerst verstehen, um zu begreifen, welchen Weg Amila in der Zwischenzeit zurückgelegt hat: dass sie – wie jeder andere Mensch auch – ein Leben hatte, das sich für sie ganz normal anfühlte. Amila hat ihre frühere Welt verlassen und bewegt sich jetzt in einer anderen Welt, in der sie studiert und Französischlehrerin werden will. Sie hat ihr altes, vertrautes Leben gegen ein neues eingetauscht. Ist das nicht der Kern von Integration: Man gibt ein vertrautes Leben her und bekommt dafür ein anderes, das sich irgendwann auch vertraut anfühlt? Das klingt so einfach, tatsächlich ist es eine Herkulesaufgabe.
Wie findet man aus dem alten, vertrauten Leben hinaus, wenn es sich doch so normal anfühlt und man nichts anderes kennt? Woher nimmt man die Kraft, den Mut und die Phantasie, sich jenseits des eigenen, vertrauten Lebens noch etwas anderes vorzustellen, etwas Schöneres, Besseres? Wie hält man die Angst und die Einsamkeit aus, nachdem man den ersten Schritt über die Grenzen des alten, vertrauten Lebens getan, aber noch keine neue Vertrautheit gefunden hat? Amila sagt, sie wisse nicht, ob sie diesen Schritt noch einmal wagen, noch einmal überleben würde.
Ohne die Mutter hätte sie es nicht geschafft. Die Mutter war wie ein winziger Spalt in der Wand, die der Vater um die Familie herum hochgezogen hatte. Dieser Spalt war zu schmal, als dass sich Amila hätte hindurchzwängen können. Er war sogar zu schmal, um einen Blick hindurchzuwerfen. Aber er war da und störte in der glatten Wand, Amila sah ihn jeden Tag. Der ständige Widerstand der Mutter gegen die Ansichten des Vaters, ihr tiefes Misstrauen gegenüber den Leuten in der Moschee führten dazu, dass Amila sich nie ganz dazugehörig fühlte.
Anfangs litt Amila darunter. Sie wollte unbedingt dazugehören. Aber selbst wenn sie sich ganz fest Mühe gab, waren da immer der Gedanke an die Mutter, das schlechte Gewissen ihr gegenüber, die Amila von den anderen trennte. Und dann war da noch der schlechte Ruf, den die Mutter in der Moschee hatte.
[...]
Als Amila sechzehn war, hörte sie auf, in die Moschee zu gehen. Sie wechselte von der islamischen Schule auf ein öffentliches Gymnasium. Sie hatte alles heimlich mit der Mutter vorbereitet. Amila hatte mit der Wut des Vaters gerechnet, trotzdem war sie schockiert.
Der Vater schlug sie nicht, aber er nannte sie eine Schande, eine Ungläubige. Er schrie es immer wieder, monatelang. Sie wusste, was Ungläubige in seinen Augen waren: die schlechtesten, hassenswertesten Menschen, die man um jeden Preis bekämpfen und besiegen musste. Amila sagt, sie habe nie aufgehört, ihren Vater zu lieben. Aber sie habe aufgehört, zu hoffen, dass er sie irgendwann versteht. Sie wohnt immer noch zu Hause. Die Mutter hat sie darum gebeten. Amila geht dem Vater aus dem Weg. Der Vater wendet sein Gesicht ab, wenn er mit ihr in einem Raum ist. Sein Schweigen erdrückt sie. Manchmal wiegt es schwerer als all ihre Träume zusammen.
Das erste Jahr am Gymnasium war hart. Amila hatte ständig die Sätze aus der Moschee im Kopf: „Die Ungläubigen hassen uns Muslime.“ – „Die Ungläubigen wollen uns zerstören.“ Diese Sätze waren wie eine Brille, durch die Amila die neue Welt sah, in die sie geraten war: Die Lehrer am Gymnasium gaben ihr schlechte Noten, nur weil sie Muslimin war. Die Mädchen um sie herum, die rauchten, Freunde hatten, ins Kino gingen, waren verdorben und wollten auch sie ins Verderben ziehen. Amila fühlte sich, als wäre sie von Feinden umzingelt. Sie hatte Angst, in die Schule zu gehen.
Wenn die Mutter sie nicht jeden Morgen gedrängt hätte, wäre sie nicht gegangen. In diesem ersten Jahr sehnte sich Amila oft zurück in die Moschee. Aber sie durfte nicht zurück, denn für die Menschen in der Moschee war sie jetzt auch ein Feind. Das Schlimmste war, dass Amila ihnen recht gab, dass sie sich genauso fühlte: wie ein Feind.
[...]
Einmal wartete sie an der Bushaltestelle, tippte irgendetwas in ihr Handy. Irgendwann blickte sie auf und sah, wie eine Mutter mit zwei kleinen Kindern sie anstarrte. Sie sah die Angst in den Augen der Mutter. Sie hörte, wie die Mutter ihren Kindern zuflüsterte: „Schnell, kommt weg hier, solche Menschen sind gefährlich.“ Während die Mutter die Kinder mit sich fortriss, blickte sie sich immer wieder um. Mit dieser Angst in den Augen. Amila kann viele solcher Episoden erzählen. In jeder haben die Menschen irgendwie einen angstvollen Blick.
Amila denkt oft an ihr erstes Jahr am Gymnasium zurück. Als sie sich wie ein Feind fühlte, weil die Menschen in der Moschee in ihr einen Feind sahen. Manchmal fühlt sie sich jetzt wieder wie ein Feind. Das Gefühl ist oft so mächtig, dass sie die anderen Blicke, die ohne Angst, gar nicht mehr wahrnimmt.