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Mit anderen Psychiatern startet er eine Kampagne gegen das DSM-5. Der Streit eskaliert: Frances spricht von einem Bürgerkrieg im Herzen der Psychiatrie.
"Ich befürchte, dass DSM-5 die Grenzen der Psychiatrie über das Notwendige hinaus ausdehnt und so das Leben vieler Menschen dramatisch beeinflusst."
Lange Zeit interessierte das DSM, das "Diagnose-und Statistik-Handbuch für psychische Störungen" nur Experten. Aber im Jahr 2009 ist es zu einer öffentlichen Angelegenheit geworden. Sein Einfluss ist immens. Es wird von der amerikanischen Psychiatrie-Vereinigung APA herausgegeben, wirkt aber weit über die USA hinaus. Seine Definitionen sind weltweit maßgeblich für die psychiatrische Forschung. Außerdem färben sie auf den psychiatrischen Teil des ICD ab, des Internationalen Klassifikationskatalogs für Krankheiten, den die Weltgesundheitsorganisation WHO herausgibt. Das im Moment noch gültige DSM-4 stammt aus dem Jahr 1995, alle 15 bis 20 Jahre werden beide Handbücher erneuert.
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Seine Kritik am DSM-5, betont Frances, beruhe gerade auf den Lehren, die er aus der seitherigen Entwicklung gezogen habe. Im DSM-4 sei man noch sehr vorsichtig mit Definitionen umgegangen. Trotzdem stieg danach die Zahl der psychiatrischen Diagnosen rapide an.
"Wir haben im DSM-4 zum Beispiel eine neue, milde Form des Autismus eingeführt, den Asperger-Autismus. Wir hatten gehofft, dass sich dadurch die Zahl der Autismus-Diagnosen um ein Drittel reduzierten würde - sie hat sich aber verzwanzigfacht. Und Studien legen nahe, dass etwa die Hälfte der Diagnosen falsch sind."
Jeder fünfte Amerikaner nimmt heute ein Medikament wegen eines psychiatrischen Leidens ein. Und in Deutschland erfüllen bereits 30 Prozent der Menschen zwischen 18 und 65 Jahren die Kriterien für eine psychische Krankheit. Zu viele, meint Allen Frances, und DSM-5 würde die Zahlen noch einmal nach oben treiben.
"DSM-5 fügt der Psychiatrie neue Diagnosen hinzu und verringert die Schwellwerte einiger bestehender Störungen. Das wird aus der gegenwärtigen Inflation eine Hyperinflation machen. Und wenn Menschen unzutreffende Diagnosen erhalten, stigmatisiert man sie und behandelt sie mit Medikamenten, die gefährliche Nebenwirkungen haben können. Das Problem besteht darin, dass die Grenze zwischen milden psychiatrischen Krankheiten und der Normalität völlig unscharf ist. Wir müssen daher die Kriterien diskutieren, die wir für Störungen benutzen."
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Der Vorteil der DSM-Diagnosen, sagen ihre Befürworter, bestünde gerade darin, dass sie so neutral und nur beschreibend seien. Sie definieren nicht, wie der einzelne Psychiater die Störung zu erklären und zu therapieren hat. Sie seien reine Konstrukte, mit deren Hilfe Therapeuten auf unterschiedliche Weise drei Dinge zusammenbringen können: die Vielfalt und Wechselhaftigkeit der Symptome, die Lebensgeschichte und das subjektive Erleben der Betroffenen. Da Symptome so vieldeutig, individuell, unscharf und wandelbar sein können, meint dagegen Allen Frances, dürfe man eben auch nicht alles unter eine Störung zwängen wollen. Das DSM-5 weite das Reich der Störungen weiter aus und verstärke die Macht der Diagnosen über die facettenreiche Wirklichkeit. Das sei gefährlich, weil auch leichte Probleme erfasst würden. Zum Beispiel im Fall der Depression.
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Ähnlich geht der Streit auch um andere Veränderungen in DSM-5. Die Kritiker monieren unter anderem, dass auch die Diagnose für ADHS ,die Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörung' auf Erwachsene ausgeweitet werden soll: "Hyperaktives Arbeiten" wird zur Störung. Oder sie beanstanden, dass jemand, der drei Monate lang einmal pro Woche eine Fressattacke hat, unter eine neue "Komafressstörung" fällt. Kinder, die häufig unerklärliche Wutanfälle bekommen, erhalten künftig die neue Diagnose "Gemütsregulationsstörung mit Verstimmung"
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