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Die Geräusche, die die Nato während des Großmanövers Anakonda in Polen aussandte, waren eher Ächzen und Knirschen. Sowohl politisch wie militärisch wirkt das Bündnisversprechen des gegenseitigen Beistands äußerst brüchig. Wenn aber die Einlösbarkeit ihres Kernversprechens zweifelhaft ist – lebt die Nato dann eigentlich noch? Oder ist sie hinter der politischen Tapete längst tot?
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Tatsächlich zeigt sie einen Landstrich, den Strategen für den derzeit verletzlichsten Teil des Bündnisgebietes halten, einen etwa 120 Kilometer breiten Streifen entlang der polnisch-litauischen Grenze, der im Norden an Kaliningrad, im Süden an Weißrussland stößt. Durch diesen Korridor, die "Suwalki-Lücke", wie ihn die Nato nennt, müssten sämtliches Gerät und aller Nachschub geschafft werden, der nötig wäre, um die baltischen Staaten zu verteidigen. Um dort hinzugelangen, hätten die Verbündeten allenfalls zwischen 36 und 60 Stunden Zeit, bevor die russischen Truppen die estnischen und lettischen Hauptstädte Tallinn und Riga einnehmen würden. Zu diesem Ergebnis kam kürzlich eine aufwendige Simulationsstudie des renommierten US-Thinktanks RAND.
Der Nato bliebe nur der Versuch der Rückeroberung. Doch dieser, so die RAND-Vorhersage, würde "im Desaster" enden. Die Nato-Bataillone wären den gepanzerten Verbänden Russlands zahlenmäßig weit unterlegen, sie könnten nicht einmal Kampfpanzer aufbieten. Von der hochgerüsteten Hafengarnison Kaliningrad aus könnte die russische Armee zudem sowohl die Ostsee für Kriegsschiffe blockieren wie auch den Suwalki-Korridor mit schwerem Artilleriefeuer belegen. "Im Großen und Ganzen", so die RAND-Studie, "wäre die Infanterie der Nato nicht einmal imstande, sich zurückzuziehen. Sie würde an Ort und Stelle zerstört werden."
General Hodges bestreitet diese Analyse ebenso wenig wie andere Nato-Vertreter. "Es stimmt, Russland könnte die baltischen Staaten schneller erobern, als wir dort wären, um sie zu verteidigen", sagt er.
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Im Idealfall sind Radar und Haubitze über eine Digitalleitung miteinander verbunden. Im Fall der polnischen und amerikanischen Geräte sind sie es nicht. Die Polen müssen den Amerikanern die Koordinaten der Geschützstellung per Telefon oder Mail durchgeben, diese wiederum müssen sie per Hand in den Haubitzencomputer eingeben.
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US-Tanklaster können zwar polnische, kanadische und litauische Fahrzeuge befüllen, nicht aber deutsche, französische, britische, italienische oder ungarische. Also müssen Adapter-Sets her. Die US-Armee besitze 36 dieser Sets, meldet eine Logistikerin Hodges zurück, die übrigen Länder hätten – außer Frankreich – keine eigenen.
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Beim Ort Chełmno an der Weichsel reiht das Panzerpionierbataillon 130 aus Minden dreißig amphibische Ponton-Fahrzeuge, jedes so groß wie ein Doppel-Lkw, zu einer 350 Meter breiten Flussquerung aneinander. Nach gut einer halben Stunde ist die Brücke passierbar, und der polnische Präsident, der eigens angereist ist, findet anerkennende Worte. Doch so eindrucksvoll das technische Spektakel war, es ist das einzige, das die Nato hinbekommt. Es gibt keine zweite Schwimmschnellbrücke in Europa. Und um die schweren Amphibienfahrzeuge überhaupt nach Polen schaffen zu können, musste sich die Bundeswehr passende Flachwagen bei der tschechischen Eisenbahn ausleihen.