haggard
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geändert von: haggard - 07.05.11, 13:33:40
Das Lied vom Autistsein
(nach "Lied vom Kindsein")
Als der Autist Autist war,
ging er mit flatternden Händen,
wollte die Wiese sei ein Urwald,
der Urwald die Welt,
und dies Sandkorn das Universum.
Als der Autist Autist war,
wusste er nicht, dass er ein Autist war,
alles war ihm beseelt,
und alle Seelen waren eins.
Als der Autist Autist war,
war ihm vieles bedrohlich,
hatte daher viele Gewohnheiten,
war oft in Bewegung,
schrie, wenn er unverstanden war,
sah so aus wie jedes andre Kind
und ließ sich nie schön fotografieren.
Als der Autist Autist war,
war es die Zeit der Fragestellungen:
Ich bin ich, aber darf nicht ich sein?
Du bist du - und darfst du sein?
Warum sei es notwendig, zum Hören den andern anzusehn – die Augen können doch nicht hören?
Warum wird die Buchhaltung mit IST und SOLL auf den Menschen übertragen?
Das Leben ist ein Spiel wird oft zitiert, warum darf ich in meinem Spiel kein Zuschauer sein und weiter die Realität erkennen?
Ist die Gute Hand wirklich gut und die Knospe nicht vielmehr ein Dorn mit einer Spitze zu stechen wie eine Lanze, die am Kind gebrochen wird?
Wie kann es sein, dass ich, der ich auch ein Mensch bin,
gehalten und verstanden werde wie ein Tier - an der Leine ausgeführt wie im Zwinger aufbewahrt,
und dass ich als Tier mir noch ein zweites Mal und immer wieder,
meine Menschenrechte verdienen und erkämpfen muss?
Als der Autist Autist war,
waren ihm verschiedene Nahrungsmittel, Oberflächenstrukturen,
Lichter, Laute, Berührungen und Gerüche eine Pein,
und setzte sich diesen aus – nicht für sich selbst.
Als der Autist Autist war,
war jedes Gestern vergangen und jeder Morgen neu,
jeden Tag immer wieder,
erschienen ihm alle Menschen gut
und jetzt nur noch selten,
war Gleicher unter Gleichen
und kann es jetzt höchstens ahnen,
konnte sich nicht Alles denken
und schaudert heute davor.
Als der Autist Autist war,
kopierte er andere aus Verzweiflung
und jetzt, so ganz bei der Sache wie damals, nur noch,
wenn diese Sache eine als notwendig erachtete Erfordernis ist, um ungestraft zu bleiben.
Als der Autist Autist war,
genügten ihm die Dinge, mit denen er sich befasste,
und so ist es immer noch.
Als der Autist Autist war,
rieselte ihm der Sand durch die Finger wie nur Sand durch die Finger,
und jetzt immer noch,
bereiteten ihm Lichtspiele ein freudiges Entzücken im Gemüt,
und jetzt immer noch,
hatte er mit jeder Buchseite
die Sehnsucht nach noch mehr Wissen und Erkenntnissen,
und hinter jeder Biegung
die Sehnsucht nach einer weiteren Biegung,
und das ist immer noch so,
unter ärgster Belastung oder größter Freude zeigte er „autistisches“ Verhalten,
wie auch heute noch,
verletzte sich selbst in größter Not
und tut dies immer noch so,
hoffte darauf verstanden zu werden,
und hofft so immer noch.
Als der Autist Autist war,
verbreiteten andere falsche Vorstellungen über sein Sein,
und sie setzen sich heute noch fort.
05/2011
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