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Thema: Wie sollte Integration in der Pädagogik aussehen? (http://autismus.ra.unen.de.auties.net/topic.php?id=1740)


Geschrieben von: 55555 am: 23.05.08, 13:42:02
In jenem Thread wurde diese Frage von grundsätzlicher Wichtigkeit aufgeworfen. Da dort jedoch das Thema überspannt würde möchte ich es hier weiterdiskutieren.

Hier beziehe ich mich auf einen Beitrag von dort:
Zitat von dine:
Wie sieht aus deiner Sicht, 55555, die Brücke aus, die man bauen kann unter Berücksichtigung von "Forderung nach Enthinderung" und wie es so in dem Beitrag von schrödingerscat berichtet wurde "...draußen vor der Haustür herrscht die Welt der NAs", sprich gewisserweise schon eine leichte Angleichung. Aber nur als Integration zu betrachten.

Was Enthinderung bedeutet kannst du hier nachlesen, mir scheint diese Bedeutung ist dir noch nicht ganz klar oder ich verstehe nicht ganz wo du eine nötige Brücke siehst.

Enthinderung ist Abbau von diskriminierenden Barrieren und hat das Ziel Autisten Handlungsfreiräume zu erschließen, die ihnen bisher wegen ihrer Minderheitenrolle und der mangelhaften Berücksichtigung autistischer Eigenschaften durch die Massengesellschaft versperrt wurden.

Wenn die Welt da draußen "so ist wie sie ist" kann das einerseits bedeutet, daß die Notwendigkeit zu Enthinderung nicht gesehen wird oder wie in den lobenden Erzählungen geschildert, daß Autisten Wissen und Fähigkeiten vermittelt werden wie allen anderen Kindern auch.

Was soll dieses "die Welt da draußen ist so wie sie ist" bedeuten? Welche Haltung will diese Feststellung transportieren? Daß man Autisten nach Möglichkeit zu NA umerziehen sollte? Ich weiß es nicht, da sehe ich noch Erklärungsbedarf.
Zitat:
Denn man kann es drehen und wenden kongruentes Verhalten hat jeder Mensch, ob Autist oder nicht.

Inwieweit jemand sich mit Mitmenschen gemein machen will entscheiden keine Fachleute und auch nicht die ESH. Das sollte jeder Mensch selbst entscheiden können und zwar ohne in eine Situation zu geraten in der er vielleicht nur noch Freude vermittelt bekommt, wenn er sich dafür im Anschluß indoktrinieren läßt. Auch das kann einen Menschen brechen und in die Verachtung der eigenen Existenz führen.

Gegen Wissensvermittlung habe ich allgemein nichts, aber hier ist diese Sache denke ich sehr heikel und die möglichen Gefahren werden oftmals wohl nicht zur Kenntnis genommen.
Zitat:
Es ist aber tatsächlich so, dass wenn jemand die Tür verlässt, die Möglichkeit bekommen sollte " klar zu kommen"und zwar selbstbestimmend....

Hierbei wird wie erwähnt leicht unterschlagen, daß die Lebensbedingungen "da draußen" teilweise den Eigenschaften eines Autisten widersprechen. Das kann zur Folge haben, daß Autisten anerzogen wird sich Situationen auszusetzen, die ihnen viel Kraft abverlangen und sie dadurch mittelfristig in einem Burnout schlittern. Das wieder kann zur Folge haben, daß Therapie erfolge mit seelischer Zerrüttung erkauft werden. Man zeigt dem Kind eine Normalität, in der es wegen seiner Veranlagung vielleicht niemals zuhause sein wird. Man treibt es so vielleicht in einen elementaren Selbstwertzwiespalt hinein. So einfach ist es eben gerade nicht, auch wenn einige Autisten sich selbst innerhalb ihrer eigenen inneren Ordnung ein wenig mit an sich widrigen Bedingungen angefreundet haben. Daher sollte sehr darauf achtgegeben werden inwieweit die von NA als nützlich betrachteten Lexionen dem Kind tatsächlich entsprechen.


Geschrieben von: 55555 am: 25.05.08, 20:40:53
Zitat von dine:
Dieses erste Zusammenspiel von sensorischen Reizen bewirkt die Vernetzung von Nervenzellen. Die in den ersten Entwicklungsjahren sehr wichtig ist, da...(siehe den Auszug aus meinem vorherigen Beitrag von Fröhlich.)

Um welches Alter geht es in dieser Theorie? Hier geht es um einen Sechsjährigen.

Außerdem ist ein Eindruck, wie du selbst zitiert hattest, nicht gleichzusetzen mit einem Reiz von außen.

Ich würde gerne hier die allgemeine Diskussion zum Thema Pädagogik bei autistischen Kindern fortführen, und im anderen Thread über ABA diskutieren. Das scheinen mir zwei Themen zu sein, wobei das allgemeinere viel grundsätzlicher ist als ABA für sich. Es wäre doch schade, wenn diese Grundsatzdiskussion deswegen später in einem ABA-Thread nicht von allem zum Thema suchenden wiedergefunden wird.
Zitat:
Wenn ich nicht durch Anreize, die mir von Dritten vermittelt wurden, das Erlernen von Fremdsprache bekommen hätte. Ich glaube, ich hätte nie freiwillig Vokabeln gelernt. Es hat mich nicht interressiert und war wahnsinnig langweilig und anstrengend.
Nun bin ich aber froh, da ich gerne Urlaub mache und ich mich so verständigen kann!

Fremdsprachen und Musikinstrumente spielen können sind ja klassische Beispiele für sowas. Und es wirft die grundlegende Frage auf wer sowas eigentlich entscheiden sollte. Was für weltanschauliche Annahmen stehen dahinter? Stimmen sie auch noch, wenn man das gewohnte System verlässt?

Und nochmal ein Absatz aus dem Beitrag von mir im anderen Thread, auf den wie ich finde bisher zu wenig eingegangen wurde:
Zitat:
Das ist die Frage, denn bei solcher gezielten Anwendung versucht man ja Menschen gewissermaßen zu programmieren. Das versucht Schule auch. Entscheidend ist jedoch neben barbarischen Methoden bei denen autistische Kinder früher stundenlang schrieen, wähnrend ihr Wille gebrochen werden sollte, welche Inhalte durch diese Methoden vermittelt werden. Wir sind uns einig, daß der Mensch ein Wesen mit einem eigenen Willen ist, eigenen Neigungen, auch schon als Kind?


Geschrieben von: drvaust am: 25.05.08, 23:43:01
Ich finde dieses Thema hier, in der 'Enthinderungsselbsthilfe' nicht richtig, es hat mehr grundsätzlichen Charakter und wäre deshalb im ursprünglichen Forenbereich richtiger. Enthinderung ist da nur ein Nebenbereich. 55555, Du bist gegenwärtig zu stark auf das Thema 'Enthinderungsselbsthilfe' fixiert, es gibt auch andere Probleme und nicht alles hat etwas damit zu tun.

Zitat von dine:
Wenn man also einem Kind die Möglichkeit gibt sich mit unterschiedlichsten Reizen zu beschäftigen ist das doch nicht verwerflich. (Es darf nur nicht als störend oder schmerzhaft empfunden werden!)
Wenn das Kind kein Interesse zeigt ist es auch nicht weiter schlimm.
Schlimm ist es, so finde ich, das Kind auf reizarm zu trimmen.
Das ist selbst bei NA´s schlimm. 3 Wochen Bettruhe und Wahrnehmungsstörungen sind vorprogrammiert!
Dem stimme ich zu.

Kein Kind kann sich richtig entwickeln, ohne immer wieder gefördert und gefordert zu werden, ohne ständig neue Themen angeboten zu bekommen. Andernfalls nennt man das Vernachlässigung.
Meine Eltern haben mir immer wieder neue Wissensgebiete gezeigt. Oder mich begleitet, weil ich als Kind alleine nicht überall hineingekommen wäre. Ich bin lieber zu einem Vortrag oder in ein Museum als auf den Spielplatz gegangen.
Das geht auch nicht völlig ohne Zwang. Wenn mich meine Eltern nicht gelegentlich gezwungen hätten, in die Schule zu gehen, wenn ich mich weigerte, wäre ich nicht so weit gekommen (ich hatte die Schule, besonders die Lehrer, vom ersten Tag an gehasst). Manchmal hätte ich lieber den ganzen Tag mit etwas gespielt, als etwas Neues kennenzulernen, was ich erst danach gut fand.
Manchmal sind meine Eltern auch zu weit gegangen, aber Niemand ist perfekt. Ich musste beispielsweise ein Musikinstrument (Blockflöte) erlernen, ich habe das ganze Programm erlernt und danach nie wieder Flöte gespielt.
Kinder müssen gezeigt bekommen, was sie alles wissen müssen und kennenlernen können. Das ist der Ausgangspunkt für die Selbständigkeit. Ein Kind kennt die Welt noch nicht, muß erst in diese eingeführt werden. Die freie Entscheidung benötigt erst das Wissen um die Möglichkeiten.


Geschrieben von: 55555 am: 25.05.08, 23:48:11
Das Thema hatte ich hier angesiedelt, weil ich damit Enthinderung in pädagogischen Konzepten thematisieren wollte und dafür überlegen wie das genau wünschenswert sein könnte. Ist das verständlich? Integration ist ein oft gebrauchter Begriff, hier hat er eine ambivalente Bedeutung.


Geschrieben von: dine am: 29.05.08, 19:36:09
Sehr spannendes aber auch ein schwieriges Thema.
Ich finde, da jeder aus seiner Perspektive sieht, es unheimlich schwierig "allgemeines" zu äussern.

Ich sehe das, was du 55555 geschrieben hast, genauso.
Da ich auch Mutter von drei Kindern bin sehe ich auch Schwierigkeiten.
Ja, ich möchte auch das meine Kinder selbst entscheiden können. Ich möchte nicht, das sie sich nur anpassen müssen. Ich sehe auch, gerade in der Schule, ziemlich viel handlungsbedarf.
Ich weiss aber auch, das ich die Welt nicht von heute auf morgen verändern kann.
Ich würde dies zwar manchmal gerne tun, da ich als NA genauso wie Autisten, auch in der "Welt da draussen" Probleme habe. Manches nicht nachvollziehen kann und durchaus einiges als anstrengend empfinde.
Als meine Zwillinge geboren wurde hätte ich eine Weltrevolution losbrechen wollen, da alles so anstrengend wurde....nicht die Kinder, nein die Gesellschaft um uns herum!
Ich und auch meine Kinder müssen sich in gewisser Weise anpassen.
Die Beispiele die du angeführt hast, bei denen Menschen gebrochen werden, um zu funktionieren, da steh ich wirklich hinter deinen Aussagen. Soche Vorgehensweise lehne ich strikt ab und finde es abartig.
Meine Perspektive, so hoffe ich, habe ich hiermit gut dargestellt. Aus dieser Perspektive heraus sehe ich Momente, die man schwierig als NA einschätzen kann.


Geschrieben von: dine am: 29.05.08, 20:03:37
Nun zur eigentlichen Frage.

Wie sollte Integration in der Pädagogik aussehen?

Hierzu müsste man als erstes Pädagogik definieren.
Pädagogik kommt aus dem griechischen und bedeutet Erziehung und Bildung.

Integration in der Pädagogik bedeutet für mich individuelle entwicklungsfördernde Angebote, die den Kindern dazu Helfen selbsttständiger und eigenverantwortlich zu Handeln.
Natürlich ohne Qualen!!
Aber schon mit einer gewissen Anforderung.


Geschrieben von: 55555 am: 29.05.08, 20:17:31
Inwieweit werden autistischen Kindern eigene Interessen und eine eigenständige Persönlichkeit zugestanden? Welche Konsequenzen hat das für pädagogische Modelle?


Geschrieben von: bianka018 am: 29.05.08, 20:48:34
Zitat von dine:
Integration in der Pädagogik bedeutet für mich individuelle entwicklungsfördernde Angebote, die den Kindern dazu Helfen selbsttständiger und eigenverantwortlich zu Handeln. Natürlich ohne Qualen!! Aber schon mit einer gewissen Anforderung.
Wo würdest du denn bei einem autistischen Kind ansetzen? Damit meine ich welche Grundlagen im täglichen Umfeld du ihm bieten würdest?


Geschrieben von: dine am: 29.05.08, 21:06:06
@bianka 018
Natürlich kann ich hier nicht pauschalisieren. Zuerst müsste man doch sehen wo das Kind steht, welche Interessen es hat, ob es Kontakt zu mir bekommt und wir uns verstehen.
Danach z.B. könnte man sehen was zuerst dran wäre ( im Sinne des Kindes natürlich).

@5
Soweit ich dieses Beurteilen kann, und hier kann ich nur auf persönliche Erfahrungen zurückgreifen, die ich selbst gemacht habe, habe ich schon gesehen dass den Kindern eigene Interessen und Persönlichkeit zugestanden bekamen.
Natürlich gibt es Modelle, die meiner Meinung nach, individuell gesehen sinnlos sind. Andere gehören abgeschafft.
Das Thema Schule ist in meinen Augen eine grosse Baustelle.
Einige Regelschulen, mit oder ohne Integrationshelfer müssten neu strukturiert werden.
Bei den Räumlichkeiten angefangen und erst Recht die Umsetzung des Lehrplans. Manche Herangehensweisen des Schreiben lernens sind ziemlich verwirrend.


Geschrieben von: bianka018 am: 29.05.08, 21:44:30
Zitat von 55555:
Inwieweit werden autistischen Kindern eigene Interessen und eine eigenständige Persönlichkeit zugestanden?
Meine Erfahrungen sehen so aus: Kind geht in eine Integrative Einrichtung mit 20 Kindern in einer Gruppe, drei Erzieherinnen im Schichtwechsel, eine von denen ist Heilpädagogin. Da der Junge sich aufgrund der dortigen andauernden Reizüberflutung sich ständig Dinge sucht, um sich innerlich zu stimulieren, glauben die Erzieherinnen, dass z.B. das Hochwerfen von Folieschnipsel und dabei mit den Händen zu wedeln, seine einzigen Interessen wären. Also ist man dort so "schlau" und achtet immer schön darauf dass er immer diese Schnipsel zur Verfügung hat. Ist doch schön einfach, anstatt den Jungen auch mal zur Seite zu nehmen, damit er seine anderen Interessen zeigen kann. Pädagogisch sehr wertvoll kann man da nur sagen zwinkern
Zitat:
werden dem autistischen Kind kaum die Möglichkeit gebeten Welche Konsequenzen hat das für pädagogische Modelle?
Wenn die Eltern und die zahlenden Ämter nichts dagegen unternehmen, werden sich die bestehenden pädagogischen Modelle nicht ändern traurig


Geschrieben von: 55555 am: 29.05.08, 22:21:20
Zitat von bianka018:
Wenn die Eltern und die zahlenden Ämter nichts dagegen unternehmen, werden sich die bestehenden pädagogischen Modelle nicht ändern traurig

Da sehe ich ein tieferes Problem: Wenn Prüfer der Ämter nicht eigenes korrektest Wissen zu Autismus haben, können sie die Zustände auch nicht beurteilen. Wie könnte man das ändern? Welche Kontrollinstanzen gibt es, die fachlich prüfen?


Geschrieben von: cony am: 29.05.08, 22:37:54
Da gibt es die Autismusambulanz.Ich hatte ja mal geschrieben, das ich das für Kilie beantragt habe.
Sie arbeitet mit dem Jugendamt direkt zusammen, geht in den Kindergarten/Hort/Schule und klärt auf, wo Bedarf besteht, bei uns ist das jedenfalls so.
Und dadurch das sie auch mit uns in Kontakt steht, kann sie uns bei bestehenden Problemen im Jugendamt gut vertreten.