Nicht therapiefähig?
2. Fachtagung: „Therapie bei Menschen mit geistiger Behinderung“
In seinem Einleitungsvortrag auf dem Kon-
gress für Klinische Psychologie, Psychothe-
rapie und Beratung am 23./24. März 2006
in Berlin verglich Prof. Peter Fiedler aus
Heidelberg den Wissensstand der Psycho-
therapie mit einem Schweizer Käse: Es
gäbe zwar viel Substanz, aber auch viele
Löcher. Zu den Löchern gehört zweifelfrei
die Psychotherapie bei Menschen mit geis-
tiger Behinderung.
[...]
Wenn 0,4 bis 0,6 %
der Bevölkerung geistig behindert sind, wie
in der einschlägigen Literatur geschätzt
wird, dann sind dies in Deutschland ca.
400.000 Menschen. Deren Beeinträchti-
gung führt zu einem erheblich höheren
Risiko an psychischen Störungen zu erkran-
ken. Die Gründe liegen in der höheren
Wahrscheinlichkeit an Misshandlung, emo-
tionaler Deprivation und sexuellem Miss-
brauch sowie der dauernden Überforde-
rung in Alltagssituation und dem Erleben
von Nicht-Kompetenz im Verhältnis zu An-
deren. Darüber hinaus sind die Kompen-
sationsmöglichkeiten im Vergleich mit
Nicht-Behinderten sehr viel begrenzter.
Prof. Dr. Klaus Hennicke schätzte in seinem
Vortrag die Prävalenz psychischer Störun-
gen mit Krankheitswert auf 40 % der Men-
schen mit geistiger Behinderung.
[...]
Die Tagung wurde wieder in Kooperation
der Plan- und Leitstelle der Abteilung Ge-
sundheit und Soziales des Bezirksamtes
Pankow mit der Psychotherapeutenkam-
mer Berlin veranstaltet. Ziel der Tagung war
neben der Vermittlung von Theorie die Stär-
kung der multiprofessionellen Zusammen-
arbeit und Vernetzung. Dazu wurde an den
Nachmittagen jeweils in drei parallelen
Workshops vor allem an Praxisbeispielen
zur Kontextarbeit, Kontraktgestaltung in Kri-
sen, zur Psychotherapie im Allgemeinen
und bei
Menschen mit Autismus [Laut Forenregeln diskriminierender Begriff] und Bor-
derlinestörungen und zur Therapie im Kon-
text von Wohneinrichtungen gearbeitet. In
allen Workshops wurde deutlich, wie wich-
tig für einen wirklichen Erfolg der therapeu-
tischen Hilfen eine enge Vernetzung mit
Familienangehörigen, anderen Helfern und
Institutionen ist.
Dies bedeutet, dass es für Psychotherapeu-
ten, die mit diesen Menschen arbeiten
wollen, unerlässlich ist, sich in besonderer
Weise auf sie einzustellen.