19.01.14, 15:36:16
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Tja, was ist wirklich der größere Tabubruch, sich als Roma zu outen oder als Autist? Das Problem bei Behinderung ist ja, daß die Barrieren nicht als diskriminiernd erkannt werden. Man muß hier meist nicht nur Botschafter einer Ethnie sein, man muß den Menschen vermitteln, daß ihre Alltagsausgrenzung aktiv diskriminierend ist. Das löst wohl noch immer deutlich größere Widerstände aus als die Einordnung als Roma, die wohl schon von den meisten Menschen eher als Faktor der kulturellen Ebene verstanden wird. Immerhin hat der Autor wenigstens auch mal das Behinderungsthema abgerissen und nicht ganz tabuisiert.
Zitat:
Noch im Jahr 2001 war es für den designierten Berliner Bürgermeister Klaus Wowereit ein mutiger Schritt, vor der Öffentlichkeit den einfachen Satz zu sagen: „Ich bin schwul.“ Und damit das niemand als Eingeständnis eines Defektes missverstand, war der Zusatz zwingend nötig, dass dies auch gut so sei.
Hier war der ursprüngliche Sinn des Wortes „Tabu“ noch spürbar, das der britische Seefahrer James Cook 1777 in der Südsee aufschnappte: Es stand bei den indigenen Völkern für etwas, das man bei Strafe des Ausschlusses aus der Gemeinschaft absolut nicht tun darf - nicht im Sinne eines rational begründeten Verbots oder einer gesellschaftlichen Konvention, sondern als etwas Unaussprechliches und damit nicht Hinterfragbares.
Der Mechanismus des Verschweigens wirkte früher bei Schwulen und Lesben so perfide wie heute bei den Roma. Wer die Sache nicht beim Namen nennt, der spielt - bewusst oder unbewusst - mit Andeutungen und Vorurteilen. Die breitere Öffentlichkeit nimmt dann nur diejenigen Exponenten der Minderheit wahr, die dem gängigen Klischee entsprechend und folglich als „schrill“ erscheinen. Das ist der „Armutsflüchtling“, der „Einwanderer in die Sozialsysteme“, der Müllberge auftürmt - oder ins scheinbar Positive gewendet der Musikant, der „Zigeunerlieder“ trällert. Die erfolgreiche Rechtsanwältin aus einer Roma-Familie bleibt in der Regel so unsichtbar wie bis vor kurzem der schwule Spitzenpolitiker. „Ich wollte keine Roma sein, ich habe mich geschämt“, sagte eine Essener Juristin voriges Jahr einem Journalisten. Dass solche Rollenmodelle fehlen, ist gerade angesichts der Bildungsdefizite bei einem Teil der neu eingewanderten Roma dramatisch.
Die scheinbar wohlwollende Weise, in der öffentlich über die Roma gesprochen werden muss, kann das eigentliche Problem nur verdecken: Auch in intellektuellen, linksliberalen wie konservativen Kreisen sind Vorurteile tief verwurzelt. Man könnte das, wenn es sich auf eine ganze Volksgruppe bezieht, auch als „positiven“ Rassismus bezeichnen. „Wir wissen nicht, in welche Richtung das Tabu tatsächlich wirkt“, sagt der Kulturwissenschaftler Hartmut Schröder aus Frankfurt an der Oder. Im schlechtesten Fall schützt es nicht die Roma selbst, sondern eine Mehrheitsgesellschaft, die von ihrer Fremdenfeindlichkeit nichts sehen, hören oder wirklich wissen will - und die Betroffenen dann lieber Miethaien überlässt, die 200 Einwanderer in ein vollkommen überfülltes Wohnhaus pferchen.
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Tabus sind mitunter auch bequem. Viele Menschen scheuen die Auseinandersetzung mit Schuld, Scham oder anderen quälenden Gefühlen - und beugen sich lieber dem Tabu. Sie bleiben im Paradies des Nicht-Wissens und Nicht-Erkennens. Es geht nicht nur um Ausschluss aus einer Gemeinschaft, sondern auch um innere Konflikte mit sich selbst - wenn sich beispielsweise ein Fußballfan durch schwule Spieler in seinem männlichen Selbstbild bedroht sieht oder ein Intellektueller sich eingestehen müsste, dass er latent fremdenfeindlich ist.
Es ist typisch für ein wirkliches Tabu, dass man nicht einmal das Wort in den Mund nehmen darf. Die Schwulenbewegung hat sich erfolgreich des verpönten Begriffs bemächtigt und sich das einst abschätzig gemeinte Adjektiv „schwul“ selbstbewusst zu eigen gemacht. Andere haben das nachgeahmt, etwa jene Behinderten, die sich lieber „Krüppel“ nennen, statt sich von wohlmeinenden Zeitgenossen als „anders befähigt“ herabwürdigen zu lassen (was in vermeintlich toleranten Kreisen ein beliebtes Schimpfwort ist).
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Von den Bevölkerungsgruppen, die im Nationalsozialismus besonderer Verfolgung ausgesetzt waren, sind die Roma im öffentlichen Diskurs heute noch am meisten tabuisiert. Vordergründig will man sie nicht diskriminieren, letztlich hält man sie sich damit vom Hals. Wer über bettelnde oder stehlende Nachbarn in Dortmund und Duisburg nicht reden will, nur weil sie Roma sind: der hält das Tabu aufrecht und hilft damit auch den Einwanderern nicht.
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Warum ist die Gesellschaft bei der Enttabuisierung der Homosexualität so viel weiter als bei der Frage der Roma? Ein Unterschied zwischen den beiden Tabus bleibt bestehen: Schwule und Lesben sind ein Teil der Mehrheitsgesellschaft, die sie in jeder Generation aufs Neue selbst hervorbringt. Deshalb fällt das Tabu in immer mehr Bereichen. Irgendwann wird es auch in Managementkreisen nicht mehr haltbar sein.
Die Armutszuwanderer hingegen werden trotz des gemeinsamen Europa als Eindringlinge von außen empfunden. Sie gelten als Fremde. Klischees bleiben erhalten, Zuschreibungen negativer Eigenschaften finden weiterhin statt, das politische Tabu bleibt bestehen und mit ihm auch die Vorurteile. Aufbrechen lässt sich das nicht durch Schweigen, sondern nur durch Offenheit und Sichtbarkeit. Auch wenn das für alle Beteiligten zunächst schmerzhaft erscheint.
Quelle
27.01.14, 19:54:55
PvdL
geändert von: PvdL - 27.01.14, 19:55:41
Ich denke, daß die Morgendämmerung, in der wir uns als Autisten befinden, die Möglichkeit bietet, in besonderem Maße unser Fremdbild mit zu gestalten. Diese sollten wir alle tatkräftig nutzen. Ich habe bei den Radio-, Fernseh- und Zeitungsinterviews, die ich geben durfte immer sehr darauf geachtet,
Autismus als Begabung in den Vordergrund zu rücken. Ich halte das für genauso wichtig, wie das Vorbild von prominenten Autisten, die erfolgreich sein konnten, weil sie sich auf ihrem eigenen Wege verwirklichen durften. Auf diese Weise läßt sich unser Fremdbild, das momentan noch stark von Rainman und Adam Lanza geprägt sein mag, zu einem besseren wenden. Geduld und Disziplin sind doch angeblich unsere Stärken. Zeigen wirs denen!