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Emotionen

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19.12.10, 22:16:16

:Schwarz:

Im September wurde unser Bahnhof fertig umgebaut. Schon lange war eine Unterführung geplant und der Bau wurde auch angefangen (wann genau weiß ich nichts mehr). Man hat allerdings kaum Fortschritte gesehen. Im September dann bin ich zwei Wochen lang nicht mit der Bahn gefahren, weil meine Integrationshilfe ausfiel. Folglich wusste ich nicht, dass der Umbau bereits abgeschlossen war.
Als ich dann bei uns am Bahnhof ankam, habe ich erst einmal bemerkt, dass dieser Gehweg zwischen den beiden Gleisen nicht da ist (man stieg normalerweise links aus), das hat mich verwirrt. Ich fragte mich, wo ich da aussteigen soll, ob man dennoch dort aussteigt. Da fing die Überforderung schon an. Als ich dann vom Sitz aufgestanden und zur Zugtür gelaufen bin, habe ich mich umgesehen, um zu sehen, ob sonst noch jemand aussteigt. Dieses Mal natürlich nicht...
Ich habe mich dann, weil der Gehweg weg war, einfach an die rechte Tür gestellt und durch das Glas geschaut, ob man dort Gehweg sieht. Es sah komisch hell aus. Nachdem ich dann die Tür geöffnet habe, sah ich, dass ich tatsächlich dort aussteigen musste. Ich war mit dieser Situation völlig überlastet. Und dann noch durch die Unterführung... Als ich mich immer weiter vom Bahnhof entfernte, drehte ich mich mehrmals um, lief sogar gegen den Zaun. Ich war auf dem Weg zur Arbeit meiner Mutter. Sie rief mich aber an und sagte mir, ich solle dort warten, wo ich stehe. Bis sie kam stand ich dem Bahnhof zugewandt.
Mein Kopf war leer, aber gleichzeitig voller Gedanken. Wie kann man einfach diesen Bahnhof verändern? Seit ich denken kann war dieser Bahnhof immer DIESER Bahnhof. Warum muss man Gewohntes zerstören? Klar, logisch betrachtet ist er nun leichter zugänglich, aber ich verstehe das nicht. Warum brauchen Menschen immer den einfachsten, bequemsten Weg? Jedenfalls... Als ich dann in das Auto meiner Mutter einstieg, fragte ich sie, wieso sie mir nichts davon sagte, sie habe es doch gesehen. Sie hat sich entschuldigt, weil es für sie nicht wichtig war. Ihr war es schlichtweg egal. Wir standen an der geschlossenen Bahnschranke und ich war wütend. Wütend, verwirrt, traurig, unruhig. Etwas raste durch meinen ganzen Körper. Ein Surren, wie ein Bienenschwarm. Ich fing an zu weinen, konnte aber kein einziges Wort sagen. Als würde etwas in mir das Sprechen verbieten. Meine Mutter machte sich immer größere Sorgen, weil ich nichts sagte und weinte, weil sie es nicht verstehen konnte. So, wie es immer ist. Manchmal kriege ich noch einzelne Wörter aus mir heraus, aber das war's dann auch.


Und vorhin, ich habe mir Pizza gemacht. Pizza Hawaii verbrennt mir normalerweise immer, ich weiß nicht warum. Dieses mal hat meine Mutter aufgepasst und die Pizza war perfekt. Ich nahm sie aus dem Backofen, habe sie auf einen Teller getan, geschnitten und in mein Zimmer gebracht. Allerdings musste ich noch einmal kurz in die Küche. Als ich wiederkam, saß eine der Katzen auf dem Tisch und leckte daran herum (obwohl ich den Schinken schon in der Küche runter getan habe).
Ich weiß nicht warum, aber ich bin ausgerastet. Ich habe geschrien, den Teller mit der Pizza auf den Tisch geknallt, die Pizza dann auch noch mal auf den Teller und meinen Ring (weil meine Hände von der Pizza schmutzig waren und ich sie waschen wollte) auf den Tisch. Ich war außer mir. Das war mein Essen, zum ersten Mal war es perfekt und nicht verbrannt oder zu trocken. Die Katze hatte das nicht zu essen, das war meins. Danach wollte ich aus Trotz erst einmal gar nichts essen, habe mich dann aber, weil ich großen Hunger hatte, für Suppe entschieden. Dabei wollte ich diese Pizza. Jetzt denke ich noch immer daran und bin noch immer sauer, habe mich aber bei der Katze dafür entschuldigt, dass ich sie so laut angeschrien habe. Bei meiner Mutter habe ich mich allerdings nicht entschuldigt...


Entschuldigung, dass der Text so lang wurde. Ich musste das einfach mal wo loswerden, wo man mich versteht.
Ich bin mir sicher, die meisten von euch kennen das.
19.12.10, 22:59:42

55555

Vielleicht bist du generell etwas angespannt? Das kann schon so sein, wenn die Umstände des eigenen Lebens eher nicht zu einem passen. Dann wird aus der recht umfassenden Minderheitenrolle eine Überlastung und daraus ein Zustand gerningerer Toleranz oder "dünnerer Nerven". Das würde ich weder auf Autismus zurückführen noch ohne Weiteres mit Emotionen gleichsetzen, wenn es sicherlich auch Emotionen sind, die daraus folgen.
19.12.10, 23:09:13

:Schwarz:

Nein, ich bin im Grunde nicht angespannt und ich komme gut damit klar wie ich lebe. "Emotionen" habe ich gewählt, weil ich sonst nicht wusste worunter ich es setzen soll. Emotionen werden durch Situationen ausgelöst, also schien es mir passend.
Beim Bahnhof war es die eintretende Veränderung, die mich überfordert hat. Mich störte schon der Anfang des Umbaus, aber das hat mich dann total aus der Fassung gebracht.
Bei der Katze weiß ich es nicht genau. Ich habe mich auf das Essen gefreut und mich darauf vorbereitet und konnte es dann nicht mehr essen. Es gehörte nun einmal mir und nicht der Katze. Ich glaube, es ging weniger um die Katze als um die ganze Situation.
20.12.10, 06:47:46

Mama

Manchmal ist man hochsensibel. Anders als an den anderen Tagen.
Vielleicht hast Du an diesem Tag (Bahnhofsveränderung) geweint, weil Du Dich von Deiner Mutter im Stich gelassen fülltest. Sie wußte im Vorfeld von den Veränderungen wie Du schriebst.
Die Katze nimmt Dir Dein Essen weg, Dein besonderes Essen. Einfach so.

Vielleicht stimmen 55555´s Worte doch ein wenig, denke einmal in Ruhe darüber nach.
20.12.10, 09:42:22

haggard

meine kater sind, wenn ich bei ihnen esse, ausgesperrt. sie finden es meistens sehr interessant, was ich esse - aber ich mag es noch nicht einmal, wenn sie das, was ich essen möchte, mit ihrer nase berühren. sie hüpfen mir dazu auch schon mal auf die schulter, wenn sie sehen, dass gerade keine hand mehr frei habe.

manchmal gebe ich ihnen vorher ein kleines stück davon, damit sie sehen können, dass es doch nicht so interessant ist für sie. wenn das so ist, kann ich auch später durch sie ungestört essen.

wenn es so gravierende veränderungen gibt wie das bei dir mit dem bahnhof, bin ich überfordert und fühle mich ziemlich hilflos. passiert auch, wenn ich wo aussteige und keine orientierung mehr besitze, in welche richtung ich gehen muss.
20.12.10, 13:34:48

starke Dame

Hallo Schwarz,

an manchen Tagen ist es einfach so, es klappt etwas nicht. Etwas ist anders oder die Katze hat die Pizza für Dich ungenießbar gemacht.

Das einzige was ich als NA hier wirklich raten kann ist, Vorsorge treffen.

Wegen der Katze hat Azrael das ja schon gut beschrieben, entweder man lässt sie probieren und sie mögen es nicht, dann hast Du Deine Ruhe, oder sie werden ausgesperrt.

Wegen dem Bahnhof, das ist eine schwierige Sache. Ich selber würde mir bewusst Baustellen, Umleitungen, Bahnhöfe, Haltestellen, Fußgängerüberwege und Unterführungen genau ansehen.

Meistens gibt es immer irgendwelche Hinweise, wo man her gehen soll, Schilder, Pfeile und Ampeln die das anzeigen würde ich mir genau einprägen und versuchen das auf andere Orte mit den gleichen Begebenheiten zu beziehen. Vielleicht kann Deine Mutter Dir mehrere Bereiche, die sich gerade verändern zeigen.

Die Unsicherheit wird immer hoch kommen, ich würde nur versuchen, mir Orientierungshilfen zu suchen.
Es wird sich immer irgend etwas baulich verändern, das kann man kaum beeinflussen.
20.12.10, 19:30:47

haggard

@starke Dame:
mit den umleitungen etc. - ok. was aber, wenn plötzlich alles fertiggestellt ist und z.b. holzwege nicht mehr vorhanden sind, die als ersatz während baumaßnahmen auf die fahrbahn gestellt wurden? liest sich vielleicht blöd, aber wenn der dann gewohnte zustand einer öffentlichen umgebung plötzlich (nach urlaub, krankheit, sonstwas) anders ist, ist das sehr merkwürdig.

heute habe ich ein verkehrsschild gesehen, das die ganze zeit einen ortsnamen durchgestrichen hatte und heute war der ortsname nicht mehr durchgestrichen, aber ein paar meter weiter existierte immer noch das schild für die umleitung. was ist dann richtig? so ähnlich ist das auch mit fußgängersachen, finde ich. auch wenn es vielleicht "logisch" ist, wenn gerüste etc. fort sind, dass das gebäude vielleicht auch wieder nutzbar ist. oder wenn wegeabsperrungen fort sind, dass man dort auch wieder entlanggehen könnte - aber woher weiß man das so sicher? vielleicht irren sich alle anderen...?
20.12.10, 20:27:25

:Schwarz:

Zitat von Mama:

Vielleicht hast Du an diesem Tag (Bahnhofsveränderung) geweint, weil Du Dich von Deiner Mutter im Stich gelassen fülltest. Sie wußte im Vorfeld von den Veränderungen wie Du schriebst.


Geweint habe ich, weil der Bahnhof sich verändert hat. Er war mir fremd - er ist es auch jetzt noch. Ich konnte und kann auch jetzt nicht verstehen, wieso man das unbedingt ändern musste. Seither bin ich nur ein Mal mit dem Zug gefahren. Ich wusste, dass ich jetzt rechts aussteigen musste, aber die Verwirrung und das Unbehagen waren noch immer da.

Zitat von azrael :
wenn es so gravierende veränderungen gibt wie das bei dir mit dem bahnhof, bin ich überfordert und fühle mich ziemlich hilflos. passiert auch, wenn ich wo aussteige und keine orientierung mehr besitze, in welche richtung ich gehen muss.


Genau so habe ich mich auch gefühlt.
Mir der Orientierung habe ich das nur, wenn es vor Ort anders aussieht als ich es erwartet habe. Wenn ich wo hinfahre, wo ich mich nicht auskenne, drucke ich mir vorher den Weg, den ich nehmen werde, aus. Ich plane so gut ich kann. Aber auch mit Planung habe ich natürlich trotzdem Angst. Hast Du das auch?
20.12.10, 20:55:23

Antika

Dieses Gefühl der Hilflosigkeit kenne ich auch nur zu gut.

Ich habe mich einmal in einer kleinen Stadt verlaufen und nicht mehr zum Hotel zurückgefunden. Da war ich dann doch sehr hilflos und wusste nicht was ich tun musste.
Spät abends habe ich dann aber nach langem Herumirren doch noch mein Hotel gefunden. Aus dieser Sache habe ich dann gelernt und mache mir nun immer vorher meinen eigenen Stadtplan.

Schaue mir auch vorher im Internet die Stadt genau an. Am PC erstelle ich mir dann anhand dessen was ich auf dem Stadtplan für wichtig halte, meinen Plan.
(Es ist eher die Ansicht aus der Vogelperspektive die ich mir betrachte.) Diesen Plan führe ich dann mit mir

Sieht es dann aber vor Ort plötzlich anders aus, bekomme ich zwar keine Angst, aber werde doch sehr unruhig da es mich sehr irritiert.
20.12.10, 21:02:38

zoccoly

Ich mag auch keine Veränderungen, könnte mich dabei weder auf Schilder noch auf sonst was konzentrieren, da ich mit der Gesamtsituation überfordert bin.
Schlimm wird es, wenn sich ein bekannter Weg verändert, denn so viele kenne ich nicht.
Wenn ich irgendwo fremd bin, habe ich auch immer Pläne dabei, aber auch dann verlaufe ich mich.
Früher geriet ich dadurch in Panik. Übte manchmal am Sonntag schon den Weg, damit ich ihn am Montag halbwegs beherrschte. Fuhr dann trotzdem viel zu früh los, da ich Angst hatte, dass ich es wieder nicht finde, was dann auch oftmals passierte.
Heute gehe ich etwas entspannter mit der Situation um.
Ich gehe davon aus, dass ich mich verlaufe, plane es ein.
Zum Glück kann ich fragen und das mache ich dann fast an jeder Ecke.
20.12.10, 21:55:55

Fundevogel

Vielleicht wird von A die Veränderung so intensiv registriert, weil der Ursprungszustand so intensiv aufgenommen wurde?

NA speichern nur im Groben und erinnern sich im Regelfall nur noch verschwommen an einige Einzelheiten. Sie nehmen die Situation also ohne Rückschau wieder neu auf. Vielleicht hilft ihnen dieses "Vergessen", unbedarfter an die neue Situation heran zu geben, weil die alte nur noch bruchstückhaft vorhanden ist?!
21.12.10, 10:14:27

haggard

Zitat:
Aber auch mit Planung habe ich natürlich trotzdem Angst. Hast Du das auch?

habe ich. stelle auch immer wieder fest, dass trotz planung kaum etwas funktioniert. vor allem bleibt das gefühl bestehen, dass es dort falsch ist, wenn der ort anders ist/bleibt.
 
 
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