Autismus als Sammelsurium unterschiedlicher (bekannter) Phänomene?
17.11.09, 19:37:19
feder
Stiess vor einigen Tagen auf diese Aussage:
(Es geht in dem Kapitel zunächst um Stoffwechseluntersuchungen.)
Zitat:
In diesem Rahmen wird auch eine Phenylketonurie ausgeschlossen, die unbehandelt zu einem Frühkindlichen Autismus führen kann. [...] In jedem Fall sollte - das Einverständnis der Eltern vorausgesetzt - eine genetische Untersuchung erfolgen. Bei ca. 20% aller Personen mit Autismus-Spektrum-Störungen liegt eine bekannte genetische Ursache, wie das Fragile-X-Syndrom, eine Chromosom-15-Duplikation oder ein anderer zytogenetischer Befund vor (Freitag 2007). [...] Viele Eltern sind entlastet, wenn sie die Ursache der Erkrankung ihres Kindes erfahren.
Quelle: Christine M. Freitag. Autismus-Spektrum-Störungen. München. 2008. S. 76f.
Irgendwo an anderer Stelle im Buch steht, für Autismus sei noch keine Ursache bekannt.
Wird tatsächlich die Diagnose Autismus gestellt, wenn es sich eigentlich um etwas anderes handelt, dessen Ursachen bekannt sind? Finde das irgendwie unlogisch.
17.11.09, 19:56:13
haggard
spannende frage. so wie es sein sollte (diagnosestellung) ist es unlogisch. logisch ist es allerdings, wenn davon ausgegangen wird, dass nur ein fachbereich sich einen patienten anschaut und von anderen fachbereichen keine ahnung hat. dann werden symptome gänzlich anderer ursachen (diagnosen) zu anderen diagnosen - ohne dass im schlimmsten falle eine "spezifische" behandlung besserung bewirken würde.
weiß nicht, wo ich das schon einmal geschrieben hatte, aber finde es bezüglich autismus fatal, wenn nachweislich allergien zu äußerlich autistischem verhalten führten (wie es innerlich ist, kann ich nicht beurteilen) und allergenverzicht als heilung von "autismus" deklariert wird.
17.11.09, 19:57:00
55555
geändert von: 55555 - 17.11.09, 20:04:55
Was die Verfahren angeht, gibt es da wohl große Differenzen. Doppeldiagnosen können abrechnungstechnisch übrigens lukrativer sein. Jemand schrieb hier mal, daß ein Psychiater vor jeder Autismusdiagnose erstmal Soziophobie diagnostiziert. Alle Autisten hätten nach diesem Arzt auch eine Sozialphobie, was ich auch für ziemlichen Unfug halte.
Edit: Wenn bestimmte Stoffe ähnliche Effekte wie bei Autismus bewirken, wäre es dann als Allergie zu bezeichnen, wenn man Autismus nicht als Krankheit betrachtet? Hier fände ich es generell auch mal sinnvoll sich zu fragen, welche Ursachen Nichtautismus hat. Leider meinen ja viele Menschen, etwas dessen Ursache bekannt sei, sei dadurch als gewissermaßen uneigentlich entzaubert. Wenn sich Ursachen bei sämlichen Autisten fänden, würde das dann bedeuten Autismus wäre nicht mehr gesund?
17.11.09, 20:32:27
feder
Zitat:
logisch ist es allerdings, wenn davon ausgegangen wird, dass nur ein fachbereich sich einen patienten anschaut und von anderen fachbereichen keine ahnung hat.
Ist das dann aber überhaupt noch Autismus? Also kann, sobald die eigentliche Ursache bekannt ist (und einem anderen Phänomen angehört), überhaupt noch von Autismus gesprochen werden? Wenn jemand etwas diagnostiziert und sich dann herausstellt, dass es durch etwas anderes bewirkt wird, dann ist das doch eine Fehldiagnose und keine Ursache des Autismus?
17.11.09, 20:37:46
55555
Das würde voraussetzen, daß es einen "echten" Autismus gäbe, der in einer größeren Anzahl der Fälle gegeben wäre. Ich zweifle daran, daß es diesen gibt und nehme eher an, daß bei Autisten Ähnlichkeiten aus ganz verschiedenen substanziellen Veranlagungen entstehen. Dabei fände ich interessant zu überlegen, ob durchschnittlicher Nichtautismus eine vorherrschende Ursache hat.
17.11.09, 21:46:31
haggard
@feder:
stimmt - es wäre dann eine fehldiagnose, grundsätzlich falsch.
"echt" wäre meines erachtens, wenn das sammelsurium bestimmter symptome autismus ausmacht, die auf nichts anderes erklärbares zurückgehen. also nicht auf eine allergie und symptomfreiheit bei allergenverzicht, nicht auf massive hirnschädigung bei der geburt etc.
17.11.09, 22:22:55
feder
@55555: sehe ich nicht unbedingt so. Wenn z.B. bei einem Kind ein Fragile-X-Syndrom diagnostiziert wird und daneben angenommen wird, das Kind sei autistisch, dann ist doch nicht die Ursache des Fragile-X-Syndroms gleichzeitig die Ursache des Autismus (sonst müssten doch alle mit Fragile-X-Syndrom auch autistisch sein).
Für deine Frage nach den Ursachen von durchschnittlichem Nichtautismus, müsste doch erst bestimmt werden können, was durchschnittlichen Nichtautismus ausmacht?
18.11.09, 10:59:02
55555
Fällt euch auf, daß Autismus noch immer indirekt als Krankheit betrachtet wird, wenn man den Anschein von Autismus auf "Allergene" zurückführt? Diese Frage fände ich mal diskussionswürdig. Zudem: Was macht Autismus aus? Doch die Anzeichen von Überforderung? Dann wäre Autismus heilbar durch Änderung der Lebensbedingungen.
Oben stand es sei die Ursache, mag sein, daß das eine haltlose Annahme darstellt, ja. Da bin ich erstmal der unbegründeten Formulierung gefolgt.
18.11.09, 13:26:12
feder
geändert von: feder - 18.11.09, 13:51:05
Denke nicht, dass deswegen Autismus indirekt als Krankheit betrachtet wird. Wenn jemand aufgrund irgendwelcher Allergien autistisch wirkt, bedeutet das für mich nicht, dass dies unbedingt ein Zustand sein muss, in dem sich die Person, selbst unter für Autisten idealsten Bedingungen, wohl fühlen muss.
Wenn Autismus sozusagen mit den Anzeichen von Überforderung gleichgesetzt würde, dann würde dies bedeuten, dass sich Autisten von Nichtautisten unter idealsten Bedingungen nicht unterscheiden würden. Denke nicht, dass das so ist.
18.11.09, 14:29:03
55555
Also nimmst du als Kriterium für eine Krankheit, daß sich jemand anders und damit unwohl fühlt? Was wäre nun, wenn jemand entdeckt, daß er beim Weglassen einer Substanz in der Ernährung, die sonst immer enthalten war weniger autistisch würde und das gut fände, weil er so weniger Probleme mit der Minderheitenrolle hätte? Wohlfühlen hängt an Vielem.
Was Autismus an sich ist meine ich selbst noch nicht erfasst zu haben. Einiges am autistischen Verhalten kann theoretisch auch auf die Lebenserfahrung eines Autisten zurückgehen. Aber ich gehe auch davon aus, daß es feste Unterschiede gibt. Allerdings finde ich es manchmal verblüffend, wie sich Beschreibungen von Autisten eventuell auf Nichtautisten übertragen dürften, sofern diese mal in der Minderheit wären.
"Herr Doktor, mein Kind hat einen großen Drang Menschen anzufassen."
"Hmhm, haptisch-kognitive Störung vielleicht. Solche Personen erleben aufgrund eines neurologischen Defekts andere Menschen in signifikant verringertem Maß direkt und verspüren einen deutlich gesteigerten Drang emotionale Nähe durch körperliche Nähe auszudrücken. Dies können sie aufgrund ihrer Störung schwer auseinanderhalten. Leider gilt die Störung als unheilbar. Daher wäre der Einsatz von Beruhigungsmitteln zu erwägen, wenn die Symptome zu schwer ausfallen."
18.11.09, 15:27:45
feder
geändert von: feder - 18.11.09, 15:31:05
Die Formulierung oben ist wohl etwas uneindeutig. Dachte es so, dass wenn eine Person auf irgendeine Substanz allergisch ist, diese Substanz aber immer wieder zu sich nimmt (weil sie z.B. nichts von der Allergie weiss und deswegen vielleicht auch gar nicht weiss, das z.B. Bauchschmerzen/Übelkeit o.ä. nicht Normalzustand sind) und aufgrund dieses Unwohlseins äusserlich Verhaltensweisen aufweist, die autistisch wirken, so würde ich diese Person nicht als autistisch bezeichnen. Selbst in einer autistischen Mehrheitsgesellschaft würden die Beschwerden dieser Person vermutlich nicht verschwinden, auch wenn sie sich äusserlich vielleicht nicht von der Mehrheit unterscheiden würde.
Bin gerade unschlüssig, ob die Person, die tatsächlich nur Probleme mit der Minderheitenrolle hat, tatsächlich allergisch auf die Substanz ist.
(vermutlich ist in den anderen Thread auslagern sinnvoll)